wasi: offener brief: 2005-12-12

Weihnachten kommt!

Liebe Freunde!

Weihnachten nähert sich! Ein hektisches Treiben erfüllt die ganze Stadt. Überall Freßbuden, Essensstände, Märkte. Auf den von Duftkaskaden durchzogenen Straßen wird gekocht, gegrillt, gebrutzelt und natürlich gegessen und getrunken und geschlemmt und gesoffen. Vielerorts herrscht ein Kaufen und Handeln als ginge es darum, demnächst die ganze Familie zu beschenken. Alles hier scheint voller Käufer und Verkäufer zu sein.
Weihnachten kommt. An allen Stellen bunte Lichterketten, schmucke, sich selbst schmückende, blütenübersäte Bäume und Sträucher. Allerorts leuchten die Farben froh, alles blinkt und glitzert und surrt. Wenn die nächtliche Dunkelheit die Kontraste stärkt, imponiert die allseitige Lichterflut natürlich am meisten und läßt die Geister der Finsternis in eben solcher versinken.
Es ist Dezember. Die Temperaturen sind nun die geringsten des ganzen Jahres, es ist gewissermaßen kühl, und gerade nachts will man nicht unbedingt nackt herumlaufen, vor allem der Blutsauger wegen. Die Hühner gackern sich eins ab als wüßten sie vom Kommen des Heilands. Weihnachten kündigt sich an. Überfluß und Exotik sind angesagt. Bananen, Ananas, Mangos, Rambutans - die Frucht hat selbst im Winter Saison. Frisch vom Baum sind sie freilich am besten.
Ich gehe meines Wegs durch die überfluteten Schluchten dieser durch sich selbst und durch alles hindurchfließenden, aufdringlichen, mich und meine Sinne bannenden, spannenden Stadt. Mir wird bang ob der vielen Tattoo-Shops. Ich erwäge kurz, dem Wahn zu erliegen und einen Weihnachtsbaum auf meinem Oberarm verewigen zu lassen. Immerhin ist bald Weihnachtszeit. Das dreirädrige Taxi neben mir raubt mir fast den Atem mit seinem pestilenten Zweitaktmotor. Schrille Rufe aus hohen, lianendurchzogenen Bäumen lassen einen nach deren Urhebern Ausschau halten. Großstadtlärm. Ausgelassener Trubel. Es herrscht Feierstimmung auf den Straßen, vor allem abends und nachts. Die Freaks sind out. Ein Lady-boy will meinen nackten Körper sehen. Ein Straßenhändler bietet gegrillte Grillen feil. Weihnachten kommt. Ich sitze in Bangkok und warte auf mein Visum für Laos.

Weihnachten?

Ich bin also wieder hier, in Südostasien. Hinterindien nennt sich das diesmal, oder Indochina. Es ist ein bißchen wie Heimkommen. Ich bin froh, wieder hier zu sein. Nur Weihnachten fehlt mir überhaupt nicht. Erstaunlich genug findet man mitten in einer Megacity wie dieser beinahe schon ländlich anmutende Gegenden (mindestens was die Hühner anbelangt), von denen sich die Backpacker-Szene gerne eine zueigen macht. In so eine Insel geflüchtet hab ich's mir in einem nach kurzem schon vertrauten Häuser- und Pflanzendschungel gemütlich eingerichtet und luge nur bisweilen noch schläfrig in das gefräßige Monster dieser Stadt der Engel, wie sie auf thai unter anderem genannt wird, dem vermeintlichen Lebensraum wiedergeborener großer Geister. Die An- und Einsichten während der Fahrt vom Flughafen versprachen freilich noch andere Welten als die hiesige, hühnerdominierte, oder die großer Geister: ein schier endlos wucherndes Gebäude-, Straßen- und Beton-Geschwür wie man es irgendwo auf diesem Planeten finden könnte; vielmehr die ziel- und planlos wiedergeborene Häßlichkeit der bestimmt unheilbaren und heillosen menschlichen Krankheit namens Zivilisation. - Aber kann man eine solche Stadt auch als schön empfinden? Nur wenn man weder absolute noch relative Maßstäbe ansetzt, sondern Schönheit als rein subjektives Empfinden annimmt - was es ja ist. Also üben wir uns darin, Bangkok schön zu finden! Zuneigung fassend zum an sich Unfaßbaren überwinden wir die Barriere der inneren Distanz und schmiegen uns an eine Welt, die das Gefühl der einsamen Verlorenheit entbehrt und in der das Häßliche schön ist, aber freilich deswegen nicht gleich richtig. Ist das, was wir Weihnachten nennen und praktizieren, richtig? Ist es schön? Ist die Kunst die, selbst im Häßlichen das Schöne zu finden, oder schlichtweg in allem das Schöne zu finden?
Das hiesige Chaos jedenfalls hat etwas sehr Lebendiges, ja Inspirierendes, und selbst der Schmutz geht nach indischen Maßstäben als penible Sauberkeit durch. Die Busse sind auch hier bisweilen bunt geschmückt - und pestilenzen deshalb um nichts geringer. Es ist winterlich heiß, und diese Stadt hat die Üppigkeit offenbar gepachtet. Die Ausgelassenheit auch. Die stillen Inseln darin ebenfalls. Am Hausaltar im Garten glimmt ein Büschel Räucherstäbchen, die Katze bediehnt sich an dem eßbaren Teil der Opfergaben. Nein, von Weihnachten merkt man hier nichts. Wünscht man inspirative Belustigung, geht man sonntags nachmittag in den Volkspark, wo sich die scheinbar zufällig versammelten und darauf offenbar innerlich vorbereiteten Thais verschwörungsgleich zuerst zur plötzlich ertönenden Kaiserhymne stramm erheben (sich nicht zu erheben käme einer Majestätsbeleidigung gleich und wäre somit selbst für einen gleichmütig unbeteiligt herumlungernden österreichischen Ex-Astrophysiker nicht straffrei), um sich anschließend - einen an erhöhtem Platze wie aus dem Nichts auftauchenden hüpf-tanzenden Animateur hundertfach spiegelnd - nach westlichen Umtata-Rhythmen ärobisierend zu bewegen, oder man drollt sich verstohlen davon und an Feuer und Keulen schwingenden jungen Thai-Gauklern vorbei, um im Grase sitzend einer Klimbim-Dingdong-Säg-Leier-Heul-Performance klassischer Thai-Musik des örtlichen Kulturförderungsvereins zu lauschen ("the author's choice"). Nur Weihnachtsbäume sucht man vergebens.

Wer sich die banale existentielle Frage "Was mach ich hier eigentlich?" nicht wenigstens zu Beginn einer solchen Reise stellt, den beschäftigte sie vermutlich zuvor daheim bereits (oder nie). Vermutlich ist dies der Grund, warum's mir diesmal nicht so recht gelingen will, in die mir sonst gängige Reiseanfangskrise reinzukommen. Während mir von einem hier ansäßigen Vogel, Gecko, Flughörnchen oder was sonst den Baum über mir bewohnt auf den Kopf geschissen wird (ich gebe zu: es war das Bein, nicht der Kopf), fällt mir auf, daß mein Gedankenproduzierapparat, ohnedies allseits unaufhörlich brabbelnd, durch die winterlich-antiweihnachtliche Hitze offenbar keinesfalls betäubt, vielmehr belustigt angeheitert angeregt zu sein scheint - auch wenn das Ergebnis bestensfalls für eine pseudo-philosophische Comedy-Soap reicht.

Und wo führt das alles hin? Nun, zunächst nach Ko Tao, um mein indonesisches Paradiesinselerlebnis aufzufrischen und die dort neu entdeckte Unterwasserwelt wiederzubeleben. Danach zieht das Wasi nach Norden, wo nach dem großen frohen Weihnachtsfeste von goldenen Buddhas beäugt die laotische Grenze naht und die Wasser des mächtigen Mekong meinen weiteren Lauf bestimmen werden.

Man tut gut daran, sich immer wieder mal aus seiner gewohnten Welt herauszureißen und herauszureisen, aus dem Allzuvertrauten herauszutreten, sein liebgewonnenes gemütliches oder auch stressiges Sein ab und an mal durch ein anderes, nicht minder liebes zu vertauschen, eine neue Sichtweise auf Altes an der alten Sichtweise auf Neues zu messen. Auch wenn dazu nicht unbedingt eine große Reise notwendig ist. Mitunter reicht es bereits, ein paar Worte zu verdrehen oder ein paar Gedanken, der Ratio Absurdes zu gewähren. Nicht nur eine andere Welt ist möglich, auch ein anderes Ich. Nein, dazu ist wahrlich keine Reise vonnöten, aber viel Wachheit, und Aufmerksamkeit, und Gegenwärtigkeit, und... ach, ich geh mir jetzt meinen gebratenen Gemüsereis holen, mit Erdnußsträusel. Und dann flanier ich noch ein wenig durch den Abend. Vielleicht treff ich ja den Portugiesen wieder, dessen Frau vor einem Monat starb und der daraufhin alle Zelte abbrach und nun um die Welt reist. Oder die Neuseeländerin, die seit fünf Jahren hier lebt und englisch unterrichtet. Oder den besoffenen Schotten, der mir im Frühjahr einen Job in Glasgow verschaffen will. Oder die Irin mit den langen roten Dreadlocks, die kam um ihren Thai-Freunden beim Wiederaufbau von deren tsunami-zerstörten Tattoo-Shop zu helfen. Oder den alten Iraner aus Berlin, der mir noch die versteckte Stelle zeigen wollte, von der aus man den benachbarten Buddha-Tempel so toll von oben sehen kann. Oder die schwedische Italienerin, die in ein paar Tagen nach Dschibuti fliegt, um ihren Vater zu besuchen. Oder die Gruppe von Australiern, die herkamen um ihren kranken Kumpel zu einem Geisterheiler zu begleiten. Oder...
Und vielleicht ist morgen ja mein Visum fertig. Dann mach ich mich auf den Weg, um dieses kolossale Gewächs von Stadt und all die hier zu findenden Weltreisenden und durch die Galaxie reisenden zurückzulassen - um in nicht ganz drei Monaten nochmal hierher zurückzukehren, meiner Rückreise zuliebe und des dann nahenden Pi-Tags.

Wenn Ihr also einen Rat hören wollt, liebe Freunde, so sag ich Euch:
Macht's wie ich - ignoriert Weihnachten!

Sawadi krap,

          A l b e r t  :)

 

 

 

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